Textbeispiel

Susanne Sölter

Lieblingsplatz oder: Leben und Tod - Eis und Filz

Am Platz Bei der Reitbahn, zwischen Eulenstraße und Ottenser Hauptstraße, vereinte sich im letzten Jahrzehnt quasi Leben und Tod: Die katholische Kirche St.Marien verkörpert den geistigen Teil, irdischer wird’s in der Nachbarschaft, wo es Essen und Trinken, Gold und Silber, Keramik und Klamotte gibt, wo Bedarf und Luxus direkt nebeneinander liegen. Wer für einen neuen Erdenbürger Kuscheltier und Seidenhemdchen erwerben will, ist hier genauso richtig wie ein Ratsuchender in Sachen Ernst- und Todesfall. Beziehungsweise WAR es: Wo nämlich früher der Tod verwaltet wurde, waltet heute das pralle Leben.

Aber zurück geblättert: Der Beerdigungsunternehmer also packte vor gut zwei Jahren seinen Schleiflacksarg ein, verschwand und ließ einen winzigen Laden zurück, der lange leer stand. Machte eigentlich nix - der Mann schien eh nicht ganz von dieser Welt. Jedenfalls, wenn wir mit Welt den Ottenser Kosmos meinen.

Irgendwie dennoch ein erstaunlicher Fortgang, weil es zunächst so schien, als ginge das Geschäft mit dem Tod sehr gut - war doch unlängst der Laden renoviert worden. Sichtbar am rosa Seidenblumenstrauß, der statt einer Urne das Fenster schmückte. Und heller wurde der triste Laden auch - bis hin zur Haarfarbe der Sekretärin, die irgendwie blonder schien. Bald sah man den stolzen Unternehmer im Kreise seiner Klientel Champagner trinkend die Neueröffnung feiern. Natürlich war ihm das vergönnt - an diesem Ort des Flanierens aber sehnte man doch ein anderes Genre herbei. Dabei soll niemand glauben, hier werde der Tod mehr gefürchtet als woanders - nein, er gehört ja schließlich zum Leben. Zum Beispiel inmitten von Wohnhäusern, gleich um die Ecke. (Querverweis Friedhof Bernadottestr.)

Nun also die Schließung. Was wird wohl hierher kommen, fragten sich die Leute angesichts der klaffenden Lücke in der Ladenzeile. Und siehe - irgendwann verhieß das verhüllte Schaufenster Interessantes, was sich eines schönen Vorfrühlingstages als Eisliebe entpuppte.

Man rieb sich die Augen, als der Eismann leibhaftig an der geöffneten Tür stand. Freundlich aus seinen Brillengläsern blinzelnd, ließ er den Blick frei für’s Innenleben, einer riesigen Eistüte mit schmelzendem Inhalt an der Wand und farbigen Polsterkissen auf weißem Gemäuer. Im Hintergrund blitzte es stählern-appetitlich-eisig. Ja, duftete es nicht heraus nach jenem verführerisch sanft-lieblichen Vanille-Hauch, der nur den besten Eisdielen entströmt? Ich meine einen ganz bestimmten Duft, der aus der Kindheit kommt - denn auch Nasen können sich erinnern. Es kam sozusagen zu Insider-Gesprächen über Gewürze und runden Geschmack zum Beispiel und über die Eisbereitung in der heimischen Eismaschine.

Diese Episode erinnert mich an alte Kindergeschichten, die ich meiner Tochter früher vorlas, Geschichten, die von den kleinen zwischenmenschlichen Dingen des Daseins handeln und helfen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Hat das nicht gar mit Liebe zu tun? Weil sie mancherorts vom Aussterben bedroht ist, sei hier ein dringender Wunsch angemeldet: Platz da für mehr Eisliebe! Wenn nämlich die Eiskugeln weiterhin so rund von Form, Wesen, Vielfalt und Geschmack bleiben, wird die Stadt ein Einsehen haben und aus der Reitbahn eine breite »Eisbahn« machen müssen, angesichts der Menschenschlangen bis zur Ecke Große Brunnenstraße etwa..

Eines schönen Tages staunten alle wartenden Eisfreaks nicht schlecht, als ganze Feuerwehrbesatzungen aus ihrem roten Riesen stiegen - der allgemeine Schreck ließ nach, als sie zügig in Richtung Eisliebe gingen, wo Gott-sei-Dank kein Eis brannte.

Es soll vorkommen, daß es im frühen Herbst etwas ruhiger wird in der Eisdiele - dann unterhalten wir uns über die Welt da draußen und die in Ottensen. Oder über die Mangelware an Lieblingsplätzen, wie die der sterbenden Konditorei-Kultur in Hamburg. Und insgeheim wünsche ich mir eine Tortenliebe für die kalte Jahreszeit.

Wenn dann aber der Winter kommt, zeigt sich plötzlich nach kurzer Pause die Eisliebe mit frostigem Fenster. Nicht echt, aber echt schön. Ach, alles fake. Denn jetzt ist’s eisig nur von außen: Aus Eis wird Filz, die Theke präsentiert einen völlig anderen Schmelz, wo jetzt Skurriles hängt, Weiches sich verknotet. In den Farben pistazie, erdbeer oder brombeerviolett und zu Schnecken geformt. Filzwaffeltüten gibt’s freilich nicht, denn Filz, bekanntlich ein überaus wärmendes Material, ist völlig ungeeignet für sensible Eiskugeln. Nun denn - so wird aus einem Platz zum Abkühlen einer zum Aufwärmen. Gottseidank nur für den Winterschlaf.

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